In den Medien wurde die Netflix-Miniserie "Adolescence" (2025) überwiegend als kritische Auseinandersetzung mit wachsender Misogynie und einem toxisch-maskulinen Weltbild interpretiert. Aus

psychologischer Sicht lässt sich die Handlung aber auch unter einem deutlich individuelleren Blickwinkel betrachten: nämlich als gewalttätiger Umgang des Hauptcharakters Jamie mit einer tiefgehenden Kränkung.

Im Verlauf der Serie wird eindrücklich gezeigt, wie Jamies Vater mit emotionalen Belastungen umgeht. Als sein Firmenauto von Jugendlichen besprüht wird, verliert er vollständig die Kontrolle und übergießt das Fahrzeug in einem Wutanfall mit Farbe. Für die Zuschauer wird dabei spürbar, wie sich die Gefühle des Vaters bis zu einem „emotionalen Vulkanausbruch“ aufstauen.

Im Interview mit der Psychologin in der Jugendhaftanstalt wird deutlich, dass Jamie dieses Verhaltensmuster internalisiert hat: Auch bei ihm zeigt sich eine ausgeprägte Tendenz zu impulsiven Wutausbrüchen, die sich plötzlich und unkontrolliert entladen.

Die Begegnung mit seiner Mitschülerin Katie stellt für Jamie einen Wendepunkt dar. Als er sie um eine Verabredung bittet, erntet er von Katie – die zuvor selbst im Internet heftigem Spott ausgesetzt war – eine schroffe Ablehnung: „So tief wie du bin ich noch nicht gefallen.“ Diese Zurückweisung löst in Jamie eine tiefe Kränkung aus.

Aus psychologischer Sicht gehören starke Kränkungen zu den schwerwiegendsten psychischen Verletzungen, die ein Mensch erleben kann. Sie berühren unmittelbar unser Selbstwertgefühl, können Gefühle von Scham, Wut und Ohnmacht auslösen und werden häufig in ihrer Tragweite unterschätzt. Gerade bei Menschen, die nie gelernt haben, emotional schwierige Situationen angemessen zu bewältigen, können solche Erfahrungen zu verheerenden Reaktionen führen, wie dies bei Jamie auf dramatische Weise deutlich wird.

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